Zum Sonntag

von Bärbel Wilde

03.04.2022
Es ist über 50 Jahre her – da machte ich mein Abitur. Die schriftliche Abiturarbeit in Deutsch war die Aufgabe, ein chinesisches Märchen zu interpretieren. Dieses Märchen habe ich seitdem nicht mehr vergessen:
„Als der Krieg zwischen den beiden benachbarten Völkern unvermeidlich war, schickten die feind-
lichen Feldherren Späher aus, um zu erkunden, wo man am leichtesten in das Nachbarland einfallen könnte. Und die Kundschafter kehrten zurück und berichteten ungefähr mit den gleichen Worten
ihren Vorgesetzten: Es gäbe nur eine Stelle an der Grenze, um in das andere Land einzubrechen.
,Dort aber‘, sagten sie, ,wohnt ein braver kleiner Bauer in einem kleinen Haus mit seiner anmutigen
Frau. Sie haben einander lieb, und es heißt, sie seien die glücklichsten Menschen der Welt. Sie haben
ein Kind. Wenn wir nun über das kleine Grundstück in Feindesland einmarschieren, dann würden
wir das Glück zerstören. Also kann es keinen Krieg geben‘. Das sahen die Feldherren denn auch
wohl oder übel ein, und der Krieg unterblieb, wie jeder Mensch begreifen wird.“
In der Ukraine wohnt nicht nur e i n braver kleiner Bauer in einem kleinen Haus mit seiner anmutigen
Frau und seinem Kind, sondern Tausende von Familien, Menschen, die sich lieb haben, und Kinder. Dennoch Krieg. Männer, Frauen und Kinder sterben. Wie viel Elend und Leid. Wie viel zerstörtes Glück.
Die Geschichte von dem kleinen Bauern und seiner Familie ist eben nur ein Märchen.
Kein Märchen ist, dass Gott uns seine Friedenshand entgegenstreckt. Gott besiegt uns nicht durch
Macht und Waffengewalt, sondern gewinnt uns durch Liebe. So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen Sohn gab.

Und das ist kein Märchen.